Durch Gelenkverschleiß bedingte Knieschmerzen (Knie-Osteoarthrose bzw. Gonarthrose, GA) sind ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem, das insbesondere ab einem Alter von 50 Jahren stark zunimmt. Nach den Ergebnissen des letzten bevölkerungsrepräsentativen Gesundheits-Surveys des Robert Koch Instituts (DEGS1) leiden an einem gegebenen Tag 17 % der Frauen und 15 % der Männer im Altersbereich von 18 bis 79 Jahren unter Schmerzen im Kniegelenk (Fuchs & Prütz 2017).
Als chronische Verschleißerkrankung verschlechtert sich die GA im Zeitverlauf meist kontinuierlich. Der Fortschritt der Erkrankung ist mit zunehmenden Bewegungseinschränkungen, Mobilitätseinbußen, Einschränkungen im Alltag und wiederkehrenden oder anhaltenden Schmerzen verbunden und führt für die Betroffenen im Zeitverlauf zu einem erheblichen Verlust an Lebensqualität (Rabenberg 2013; Stöve 2018). Nach längerem Krankheitsverlauf kommt es häufig zur Implantation eines künstlichen Kniegelenks.
Seit 2005 hat sich die Anzahl der in deutschen Krankenhäusern durchgeführten Erstimplantationen einer Endoprothese am Kniegelenk um mehr als 50 % erhöht. Nach einem leichten Rückgang der Fallzahlen zwischen 2009 und 2013 (-10 %) stieg die Anzahl der in Deutschland durchgeführten Implantationen eines Kniegelenkersatzes (inkl. Patellaersatz) im Zeitraum von 2013 bis 2019 gemäß Daten des Statistischen Bundesamtes von 143.000 auf 194.000 und damit um über 35 %.
Angesichts des demografischen Wandels und des damit einhergehenden steigenden Anteils älterer Menschen ist in den nächsten Jahren ein weiterer Anstieg sowohl der Krankheitsfälle, als auch der Endoprothetik zu erwarten. Ferner ist wegen der in den zurückliegenden Jahrzehnten beobachteten starken Zunahme der Menschen, die unter starkem Übergewicht (Adipositas) leiden, mit einer über den demografischen Effekt hinausgehenden Zunahme der GA-Prävalenz und des daraus resultierenden Versorgungsbedarfs zu rechnen.
Der fünfte Versorgungsreport der DAK greift daher das Thema Knieschmerzen bzw. das Krankheitsbild der Gonarthrose auf. Neben einer umfassenden Analyse der aktuellen Versorgung von DAK-Versicherten mit GA steht vor allem die Frage im Zentrum, inwieweit – gemessen an den aktuellen medizinischen Leitlinien – Versorgungsdefizite bestehen und wie das Behandlungsangebot sinnvoll erweitert bzw. verbessert werden kann.
Die Versorgungssituation in Deutschland ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass die von medizinischen Leitlinien empfohlenen nicht-medikamentösen, konservativen Behandlungsmaßnahmen weitgehend fehlen und die verfügbaren Maßnahmen – insbesondere Physiotherapie – nicht im angezeigten Umfang in Anspruch genommen bzw. verordnet werden. Nach den im Rahmen des Versorgungsreports durchgeführten Literaturanalysen besteht eine wirksame konservative Behandlung der GA aus drei Kernelementen: (1) Beweglichkeits-, Ausdauer- und Krafttraining, (2) Patientenedukation und (3) Anleitung zur Gewichtsreduktion. Ferner gibt es Evidenz, dass die besten Effekte erzielt werden, wenn diese Kernelemente in Form eines multimodalen Programms gebündelt angeboten werden.
Angelehnt an gut evaluierte Vorbilder – insbesondere das in Großbritannien entwickelte und inzwischen durch den NHS breit etablierte Programm ESCAPE-knee pain (Enabling Self-management and Coping of Arthritic knee Pain through Exercise) – wurde ein zweistufiges Versorgungskonzept entworfen: Das Gonarthrose-Intensivprogramm wird unter Anleitung eines Physiotherapeuten durchgeführt und besteht aus zwölf Gruppensitzungen mit fünf bis zehn Teilnehmenden. Inhalt dieser Sitzungen sind Bewegungstrainings und Patientenedukation. Die Teilnehmenden erhalten einen individuellen Trainingsplan, den sie im Anschluss an das Intensivprogramm mit digitaler Unterstützung durch das Gonarthrose-Basisprogramm fortführen sollen.
Bereits in den regulären Programmterminen sind Ernährungs- und Gewichtsfragen ein wichtiger Bestandteil der Patientenedukation. Darüber hinaus werden Teilnehmenden mit einem relevanten Gewichtsproblem vier zusätzliche Einzel-Coachings der Ernährungsberater angeboten.
Das Gonarthrose-Basisprogramm ist die Onlineversion des GA-Intensivprogramms und vermittelt mittels Videoclips, Präsentationen und ausdruckbaren Textdokumenten dieselben edukativen Inhalte und Übungsanleitungen für ein kontinuierliches, eigenständiges Training.
Um den potenziellen Nutzen insbesondere des Gonarthrose-Intensivprograms abzuschätzen, wurde eine Modellierung mit Hilfe eines komplexen Markow-Modells durchgeführt. Zielgröße ist die Anzahl der Personen mit Erstimplantation eines Kniegelenkersatzes in einer Kohorte von beim Start 40 Jahre alten Versicherten im Verlauf der nächsten 50 Jahre, also bis alle Mitglieder der Startkohorte entweder 90 Jahre alt oder vorher verstorben sind. Die Modellierung des Effekts der Teilnahme an den Interventionsmaßnahmen orientiert sich an den in wissenschaftlichen Studien berichteten Effekten von vergleichbaren Interventionsprogrammen auf die Wahrscheinlichkeit der Implantation einer Knieendoprothese bei Gonarthrose und der Effektdauer dieser Programme.
Gemäß den Ergebnissen der Simulationsstudie könnte durch eine verbesserte Versorgung der Gonarthrose die Häufigkeit einer Knieendoprothese um 7,1 % bis 11,5 % verringert werden. Bei weiteren 3,4 % bis 4,3 % der Personen mit Kniegelenkersatz könnte die Erstimplantation eines Kniegelenkersatzes um durchschnittlich 7,1 bis 7,5 Jahre zeitlich verzögert werden. Bei zwischen 3,3 % und 4,6 % der Personen mit Erstimplantation einer KEP vor dem 60. Lebensjahr könnte die Erstimplantation soweit zeitlich verzögert werden, dass im weiteren Lebensverlauf keine Wechseloperation erforderlich ist.
Zur Abschätzung der Wirtschaftlichkeit des Einsatzes des GA-Intensivprogramms bei Versicherten mit hohem Risiko für einen Kniegelenkersatz wurde ein Vergleich der Programmkosten mit den zu erwartenden Einsparungen aufgrund der entfallenden Implantationen durchgeführt. Die bei Einführung der Intensiv-Variante dieses Versorgungskonzepts zu erwartenden Zusatzkosten könnten voraussichtlich nicht vollständig allein durch Einsparungen aufgrund von vermiedenen Kniegelenksimplantationen kompensiert werden. Dies gelänge nur, wenn eine stärker auf ein hohes KEP-Risiko fokussierte Zielgruppe in das Programm eingeschlossen wird. Berücksichtigte man jedoch auch die Nutzenaspekte der Reduktion von GA-bedingten Schmerzen und Funktionseinschränkungen sowie die Kollateraleffekte auf andere Erkrankungen und Risiken (komorbide Muskel-Skelett-Erkrankungen, Gesundheitsrisiken und Folgeerkrankungen aufgrund von Adipositas), so dürfte die Implementierung insgesamt positive Netto-Effekte haben.
„Die Ergebnisse des fünften DAK-Versorgungsreports unterstreichen eindrucksvoll, welche Reserven in der konsequenten Umsetzung leitlinien- und evidenzbasierter Therapien bei Knieschmerzen und Gonarthrose liegen. Das hier vorgestellte Konzept stützt sich auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die zeigen, dass durch Patientenedukation, angeleitetes körperliches Training, ergänzender Ernährungsberatung in Kombination mit digitalen Gesundheitsanwendungen ein Gelenkerhalt möglich ist und sich die Versorgungssituation von Menschen mit Knieschmerz und Gonarthrose verbessern ließe.“
Andreas Storm, Vorstandsvorsitzender der DAK-GesundheitDie Datengrundlage der Untersuchung besteht aus 1,1 Millionen DAK-Versicherten im Alter ab 40 Jahren, die sich im Zeitraum 2014 bis 2019 mindestens einmal wegen Gonarthrose in ambulanter oder stationärer Behandlung befanden. Für die vertiefenden Analysen der Versorgung der Gonarthrose in den unterschiedlichen Phasen der Erkrankung werden aus diesen Versicherten drei eng abgegrenzte Untersuchungsgruppen mit hoher Versorgungsrelevanz ausgewählt: Neu an Gonarthrose erkrankte, Versicherte mit behandlungsbedürftiger Gonarthrose ohne Kniegelenkersatz und Versicherte mit behandlungsbedürftiger Gonarthrose mit Kniegelenkersatz im Untersuchungszeitraum. Die Untersuchungsgruppen umfassen insgesamt 287.427 Versicherte. In die Analysen werden die Abrechnungsdaten aus den Leistungsbereichen ambulante vertragsärztliche Versorgung, Krankenhausbehandlungen, Arzneimittel sowie Heil- und Hilfsmittel einbezogen. Darüber hinaus liegen für die Untersuchung Daten zu Arbeitsunfähigkeiten der erwerbstätigen Versicherten mit Krankengeldanspruch vor.
Der Versorgungsreport Knieschmerzen / Gonarthrose beinhaltet zunächst einen Überblick zu den relevanten medizinischen Aspekten des Krankheitsbilds der Gonarthrose (Abschnitt 2) und eine detaillierte statistische Analyse der gesundheitlichen Versorgung der ausgewählten Untersuchungsgruppen (Abschnitt 3). Für neu an Gonarthrose erkrankte Versicherte wird die Gonarthrose-spezifische Versorgung in den ersten zwei Jahren ab Diagnosestellung analysiert, für Versicherte mit Implantation eines Kniegelenkersatzes in einem Zeitraum von bis zu fünf Jahren vor der Operation. Für Versicherte mit einer behandlungsbedürftigen Gonarthrose ohne Kniegelenkersatz erstreckt sich die Analyse der gesundheitlichen Versorgung auf einen Zeitraum von fünf Jahren.
Basierend auf den Ergebnissen der Literaturanalyse zu wirksamen konservativen, nicht-medikamentösen Interventionen bei Gonarthrose in Verbindung mit den Ergebnissen der Analyse der gesundheitlichen Versorgung der Gonarthrose, wird ein innovatives Versorgungskonzept bei Knieschmerzen und Gonarthrose entwickelt (Abschnitt 4). Dieses zielt auf der Grundlage wissenschaftlicher Evidenz für die Wirksamkeit der Maßnahmen darauf ab, Schmerzen und Funktionseinschränkungen zu reduzieren, die Lebensqualität zu verbessern, einer Verschlechterung der Erkrankung vorzubeugen und die Wahrscheinlichkeit für einen Kniegelenkersatz zu verringern. Mit einer gesundheitsökonomischen Modellierung werden die Effekte eines solchen Programms auf die Häufigkeit von Kniegelenkersatz und die Kosteneffektivität des Programms untersucht (Abschnitt 5).