Der kleine Unterschied zwischen Frauen und Männern – für die Gender-Medizin ist er ein großes Thema. Die Gender-Medizin beschäftigt sich mit den biologischen und genetischen Voraussetzungen und ihren unterschiedlichen Auswirkungen auf Krankheitsbilder bei Frauen und Männern. Auch Krankschreibungen sind bei den Geschlechtern unterschiedlich häufig – das hat unser aktueller Gesundheitsreport untersucht. Er zeigt, dass Frauen öfter krankgeschrieben sind als Männer. Im Jahr 2015 betrug der Unterschied etwa 14 Prozent. Doch woran liegt das?
Wie in den meisten Bereichen der Gender-Medizin beeinflussen viele Faktoren eine Antwort auf diese Frage. Neben den genetischen und biologischen Unterschieden spielen bei der geschlechtsspezifischen Betrachtung von Krankheiten auch soziale und psychologische Aspekte eine Rolle. Krebserkrankungen etwa sind bei Frauen zu 74 Prozent häufiger die Ursache für Krankschreibungen als bei Männern. Auch wegen psychischer Erkrankungen sind Frauen deutlich häufiger krankgeschrieben. Bei Männern dagegen sind Verletzungen häufiger der Grund für Fehltage. Der DAK-Gesundheitsreport hat auch ermittelt, dass Frauen häufiger als Männer in Branchen oder Berufen mit hohem Krankenstand arbeiten und häufiger zu Präsentismus neigen, also krank zur Arbeit gehen. Was viele Eltern sicher kennen: Sich in der Not mal selbst krank melden, um das erkrankte Kind zu Hause zu betreuen. Mütter greifen zu dieser Maßnahme häufiger als Väter.
Aus den komplexen Zusammenhängen ergeben sich verschiedene Erklärungsansätze, warum Frauen häufiger krankgeschrieben sind als Männer. Dies zeigt sich auch bei den folgenden Einschätzungen der Experten, die am DAK-Gesundheitsreport 2016 mitgewirkt haben.
Prof. Dr. Petra Kolip (Universität Bielefeld): Die Aussage, dass Frauen eine höhere Morbiditätslast tragen, trifft in dieser Pauschalität sicherlich nicht zu. Frauen und Männer sind aus unterschiedlichen Gründen von unterschiedlichen Morbiditätsprofilen betroffen - Männer zum Beispiel mehr von Arbeitsunfällen, Frauen von depressiven Erkrankungen.
Prof. Dr. Anne-Marie Möller-Leimkühler (Ludwig-Maximilians-Universität München): Der höhere Krankenstand von Frauen ist weniger ein Indikator für häufigere Erkrankungen als für weibliches Gesundheitsverhalten. Umgekehrt ist der geringere Krankenstand bei Männern kein Indikator für eine bessere Gesundheit von Männern. Das Gesundheitsverhalten der Frauen beinhaltet allgemein höhere Stresssensibilität, höhere Sensibilität gegenüber körperlichen und psychischen Symptomen, stärkere Befindlichkeitsstörungen, ausgeprägteres präventives Verhalten und eine höhere Toleranz gegenüber kurzen Fehlzeiten.
Prof. Dr. Stephanie Krüger (Vivantes Humboldt-Klinikum Berlin): Ich denke, Frauen haben weniger Probleme damit, zuzugeben, dass es ihnen nicht gut geht oder sie erkrankt sind, deswegen gehen Frauen eher zum Arzt als Männer.
Prof. Dr. Elmar Brähler (Universität Leipzig): Frauen sind gesundheitsbewusster als Männer. Sie gehen deshalb eher zum Arzt und suchen Vorsorgeuntersuchungen auf. Dies könnte zu einer erhöhten Krankschreibewahrscheinlichkeit der Frauen führen.
Dr. Matthias Stiehler (Dresdner Institut für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft): Die Frage nach dem höheren Krankenstand der Frauen ist sehr frauenzentriert. Sie ließe sich aber auch auf Männer fokussieren: Warum halten Männer manches Mal zu lange durch? Welche Anforderungen stellen Betriebe an Männer, wo bei Frauen vielleicht Krankheit akzeptiert wird? Fragen nach dem höheren Krankenstand der Frauen sind beispielhaft für ein gesellschaftliches Thema: Probleme von Frauen werden eher akzeptiert, während das Funktionieren von Männern als selbstverständlich vorausgesetzt wird.
Prof. Ingo Froböse (Deutsche Sporthochschule Köln): Regeneration und Pause im Alltag sind durch die vielfältigen Aufgaben der Frauen in Alltag und Freizeit deutlich weniger ausgeprägt.
Prof. Dr. Anne-Marie Möller-Leimkühler (Ludwig-Maximilians-Universität München): Unterschiedliche Bedürfnisse von erwerbstätigen Männern und Frauen resultieren aus ihren unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen, ihrem unterschiedlichen Gesundheits- und Risikoverhalten und den damit verbundenen Gesundheitsrisiken. Die zahlreichen Befunde hierzu sind in Empfehlungen und Beschlüsse auf nationaler und europäischer Ebene zur Berücksichtigung von Gender Mainstreaming als Arbeitsprinzip auch in die betriebliche Gesundheitsförderung eingegangen. Tatsache ist aber, dass die betriebliche Praxis diesen Beschlüssen weitgehend hinterherhinkt. Die betriebliche Gesundheitsförderung ist in der Regel nicht gendersensibel gestaltet. Das hat viele Ursachen. Zum Beispiel gibt es keine pauschalen Lösungen, vielmehr setzt die Entwicklung entsprechender Angebote eine hohe Differenzierung voraus: nach Branche, beruflicher Stellung, Art der Tätigkeit und den tatsächlichen physischen und psychosozialen Arbeitsbelastungen.