DAK-Pflegereport 2024: Die Baby-Boomer und die Zukunft der Pflege – beruflich Pflegende im Fokus
Inhaltliche Ausrichtung und Struktur
Der DAK-Pflegereport 2024 stellt sich herausfordernden Fragen im Zusammenhang mit der Zukunft der Pflegeversicherung und der pflegerischen Versorgung der Bevölkerung. Der Gesamtreport beruht auf fünf eigenständigen Analysen:
- Einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, zu den übergeordneten Themen Personalbedarf und Finanzierung der Pflege, durch das Institut für Demoskopie Allensbach.
- Einer Analyse der GKV-Routinedaten zur gesundheitlichen Situation und krankheitsbedingten Beeinträchtigungen von beruflich Pflegenden, durchgeführt von der OptiMedis AG.
- Das Deutsche Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. (dip) hat das Verhältnis von Qualifizierungen und altersbedingtem Berufsaustritten in der Pflege untersucht.
- 16 qualitative Interviews mit beruflich Pflegenden aus der Baby-Boomer-Generation geben vertiefte Einblicke in die berufliche Identität und Berufserfahrungen. Die qualitative Studie wurde von AGP Sozialforschung durchgeführt.
- Good Practice-Beispiele aus 16 Bundesländern zeigen auf, welche Maßnahmen ergriffen werden können und müssen, um das Arbeitsfeld der Pflege attraktiv zu halten, effiziente Formen der gesundheitlichen Versorgung zu entwickeln und eine bedarfsgerechte Versorgung von auf Pflege angewiesenen Menschen sicherzustellen.
Kernergebnisse DAK-Pflegereport 2024
Herausforderungen für die Pflegeversicherung im demografischen Transformationsprozess
- Kipppunkte der Pflege ab Ende der 2020er Jahre: Altersbedingte Austritte aus dem Pflegeberuf werden nicht mehr durch Absolventen / Absolventinnen von Pflegefachschulen ersetzt werden können.
- Ältere Pflegekräfte sind von gesundheitlichen Belastungen besonders betroffen und weisen eine hohe Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen auf, in der Altenpflege liegt sie im Schnitt bei über 50 Tagen per anno. Auf sie haben sich Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in besonderer Weise auszurichten.
- Die demographische Transformation führt zu steigendem Bedarf an pflegerischer Unterstützung bei gleichzeitig abnehmenden Personalressourcen.
- Die Sicherstellung der Pflege und der Fachkräftemangel in der Pflege sind in den Augen der Bevölkerung zentrale gesellschaftspolitische Themen, die von der Politik nicht ernst genug genommen würden.
- Die Baby Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich: Angesichts eines zurückgehenden Familienpflegepotentials bedarf neuer Formen informeller und solidarischer Unterstützung in einer Gesellschaft des langen Lebens.
Zentrale Befunde der Bevölkerungsbefragung
Pflege: ein gesellschaftliches Topthema
- Das Thema Pflege, Pflegeversicherung und Personalmangel in der Pflege wird von der Bevölkerung als eines der zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit gewertet.
- Die Bevölkerung ist weiterhin bereit – und zwar über alle Generationen hinweg – sich an Aufgaben der Unterstützung und Begleitung auf Pflege angewiesener Menschen zu beteiligen.
- Über 50 Prozent der über 40-Jährigen sind bereit, Nachbarn, Freunde und Bekannte bei Pflegebedürftigkeit regelmäßig im Alltag zu unterstützen.
- Die Bevölkerung befürchtet deutliche Mehrausgaben für die Bewältigung von Pflegebedürftigkeit. Das besorgt sie.
- Die Bevölkerung ist überwiegend ratlos, wie sich das Problem der Sicherstellung der pflegerischen Versorgung in der Zukunft lösen und finanzieren lässt.
- Einkommensabhängige Leistungen (Beteiligung einkommensstärkerer Haushalte) wird von einer Mehrheit begrüßt.
- Hohen Respekt schuldet die Bevölkerung beruflich Pflegenden. Dabei geht sie allerdings von einem sehr traditionellen und wenig professionsgeprägten Verständnis von Fachpflege aus.
- Über 50 Prozent der deutschen Bevölkerung wünschen sich bei Pflegewohngruppen eine finanzielle Unterstützung vergleichbar mit der von Pflegeheimen. Unter den Personen, die dieses Angebot bereits vor der Befragung kannten, steigt dieser Anteil nochmals an.
Eine Mixtur aus nachberuflicher Erwerbstätigkeit und bürgerschaftlichem Engagement vor Ort könnte einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Pflegesituation leisten. Bisherige Regelungen sind zu bürokratisch (z.B. die Anerkennungsvoraussetzungen für die Leistungserbringung gem. § 45b SGB XI). Von Pflegediensten organisierte betreuungs- und hauswirtschaftliche Unterstützungsformen stehen zudem nicht in bedarfsdeckendem Maße zur Verfügung.
Zentrale Befunde der Routinedatenanalyse
AU-Tage beruflich Pflegender: ein Weckruf
- Pflegekräfte, insbesondere Pflegehilfskräfte bleiben trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen lange im Beruf.
- Beruflich Pflegende sind in besonderer Weise von gesundheitlichen Risiken betroffen. Dabei spielen sowohl Erkrankungen im Bewegungsapparat eine Rolle als auch – und dies in besonders ausgeprägter Weise – psychische Belastungen.
- Beruflich Pflegende der Boomer-Generation sind besonders häufig von gesundheitlichen Beeinträchtigungen betroffen und weisen eine hohe Zahl von Arbeitsunfähigkeitstagen auf, in der Altenpflege liegt sie im Schnitt bei über 50 Tagen pro Jahr.
Zentrale Befunde der DIP-Untersuchung
Die gesundheitlichen Belastungen von beruflich Pflegenden im späteren Erwerbsalter (Baby-Boomer) fordern eine explizite Präventions- und Gesundheitsförderungsstrategie für beruflich Pflegende. Auch die Arbeitsbedingungen gilt es, weiter in den Fokus pflegepolitischer Aufmerksamkeit zu rücken.
Ende der 2020er werden Kipppunkte erreicht
Eine ganze Reihe von Narrativen, die die Pflegediskussion bestimmen, entbehren einer empirischen Grundlage. Dazu gehören:
- Die ersten Kippunkte (die Renteneintritte übertreffen die Quote der Berufseinsteiger, die in den Beruf einmünden) werden in den ersten Bundesländern ab 2029 erwartet
- Pflegekräfte haben KEINE kurze Verweildauer im Beruf. Im Gegenteil: Sie sind berufstreu.
- Die Zahl der Erwerbstätigen in der beruflichen Pflege ist stabil. Es gibt keine Hinweise darauf, dass ein „Pflexit“ (eine coronabedingte Flucht aus dem Pflegeberuf) stattgefunden hat.
- Der Pflegeberuf ist nicht unattraktiv: 2020/2021 wurden so viele Pflegende ausgebildet wie noch nie. Die Ausbildungszahlen halten sich auch nach Einführung der generalistischen Ausbildung stabil – dabei spielen allerdings Zugewanderte regional eine zum Teil dominante Rolle.
- Beruflich Pflegende sind sektoren- und ortstreu: Ein Sog ins Krankenhaus wegen besserer Bezahlung oder Arbeitsbedingungen lässt sich nicht nachweisen.
- Pflege ist ein regionaler Beruf, der Arbeitsmarkt der Pflege ist regional: Insofern sind konsequent regionale Betrachtungsweisen anzustellen, wenn es um die Einschätzung des Pflegepersonals aber auch der demografischen Dynamiken geht.
Der Arbeitsmarkt der Pflege ist regional: Insofern sind konsequent regionale Betrachtungsweisen anzustellen, wenn es um die Einschätzung des Pflegepersonals aber auch der demografischen Dynamiken geht. Ein Ausbau der Personalkapazitäten in der Pflege wird demografiebedingt nicht gelingen – mithilfe von Zuwanderung lässt er sich bestenfalls stabil halten. Weitere berufliche Qualifikationen auf dem Niveau von Assistenzberufen werden gefragt sein.
Zentrale Befunde der Interview-Studie
„Pflege mein Traumberuf?“
- Die vielerorts zunehmende Personalnot führen zu zusätzlichen Belastungen in der Pflege und erschöpfen gerade berufserfahrene Pflegekräfte.
- Beruflich Pflegende, insbesondere in der Langzeitpflege, folgen nicht unbedingt dem Bild und den Vorstellungen moderner professioneller Pflegekonzepte.
- Beruflich Pflegende sind vielfach hoch identifiziert mit ihrer Arbeit und mit ihren Patient*innen und ihnen „anvertrauten“ Pflegebedürftigen.
- Sie sind teilweise skeptisch, was das Pflegeverständnis und die beruflichen Vorstellungen von Angehörigen der Generation Z sind, die aktuell in den Pflegeberuf gehen.
- Pflege ist ein Frauenberuf mit seinen typischen Merkmalen. Das zeigt sich auch in begrenzten und oft nicht gegebenen oder genutzten Bedingungen für Karriereperspektiven in der Pflege.
„Und das ist unheimlich nervig und es ist einfach zu wenig Personal da. Es gibt keinen Nachwuchs. Wir haben seit Jahren keine Auszubildenden mehr und wir im Kollegenkreis sind alle Mitte bis Ende 50. Da stellt es sich auch ein, dass man nicht mehr- Naja, man ist nicht mehr wie 20, man kann nicht mehr doppelt Dienste oder Spätdienst nächsten Tag wieder Frühdienst haben, da haben sie vielleicht acht Stunden zwischendrin frei. All das. Das ist nicht mehr so leicht möglich, aber da nimmt auch keiner Rücksicht drauf.“ (Int. Fr. Böhm, Z. 29-34)
Pflege kann ein Traumberuf sein. Es kommt auf die Arbeitsbedingungen an und die Möglichkeit, berufliche Überzeugungen in der beruflichen Praxis umzusetzen. Die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens und der Langzeitpflege wirken sich negativ auf die Berufsidentität aus.
Good Practice
Wege aus dem Pflegenotstand
Im Rahmen des DAK-Pflegereportes 2024 wurde aus jedem Bundesland ein Good Practice-Beispiel ausgewählt, das sich als Beitrag zur Zukunftssicherung der pflegerischen Versorgung versteht. Wo überall angesetzt werden kann und muss, um die pflegerische Versorgung der Zukunft zu gewährleisten, wird in der nachfolgenden Übersicht ersichtlich:
- Die Good Practice-Beispiele weisen Wege, wie man mit den unterschiedlichen Aspekten des Pflegenotstandes umgehen und wie Wege aus ihnen gefunden werden können.
- Sie reichen von der regionalen Attraktivität generalistischer Pflegeausbildung – auch in der Langzeitpflege bis hin zur Gewinnung von Zugewanderten für Sozial- und Pflegeberufe und ihre Integration in die örtliche Gesellschaft.
Es bedarf nicht weiterer Modelle, es bedarf einer konsequenten Umsetzung und die verbindliche Eröffnung von sektorenübergreifenden Versorgungskonzepten.
Pflegepolitische Forderungen
Eine Analyse der Personalressourcen, der Ressourcen informeller Sorge und der Entwicklung der Finanzierung der Pflegeversicherung lässt drei zentrale Herausforderungen sichtbar werden, auf die sich die Gesundheits- und Pflegepolitik zu konzentrieren hat:
- Die Sicherung der fachpflegerischen Versorgung verlangt nach einem kompetenzorientierten Einsatz von Pflegekräften inklusive eigenständiger heilkundlicher Aufgabenwahrnehmung. Das Pflegekompetenzgesetz könnte hier einen wichtigen Beitrag leisten. Neben der Fachpflegekräfte, zu denen akademisierte Pflegeausbildungen ihren Beitrag zu leisten haben, sind Assistenzberufe sowohl in der Pflege als auch in der Hauswirtschaft gefragt. Sie gilt es konsequent und flächendeckend zu etablieren.
- Die Finanzierung der Pflegeversicherung ist nicht einmal bis Ende 2024 gesichert. Es müssen dringend alle Anstrengungen unternommen werden, die soziale Pflegeversicherung in ihrem Bestand zu sichern und zukunftsfest zu machen. Alle Überlegungen, (zusätzlich) eine kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung einzuführen, helfen nicht, um den absehbar kurzfristigen Finanzierungsbedarf der Pflege zu decken: Sie greifen erst dann, wenn der Peak an Pflegebedürftigkeit, der durch die Boomer ausgelöst wird, verstrichen ist. Sie führen überdies zu einer zusätzlichen Belastung der jüngeren Generation. Die Stabilisierung häuslicher Pflegearrangements ist einer der Schlüssel zur Sicherung der Finanzierung der Pflegeversicherung.
- Die Baby-Boomer sind das Problem und die Lösung zugleich: Durch die für die Boomer-Generation typische Individualisierung, die Veränderung von Lebensverhältnissen und die Abnahme von Familienbindungen werden andere soziale Netzwerke an Bedeutung gewinnen: Nachbarschaften, Freundschaften, zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Diese Formen der Selbstorganisation von Sorge, fachlich begleitet durch Fachkräfte, wird eine der zentralen Perspektiven für die Sicherung der Pflege darstellen müssen, mit kommunalen Unterstützungsformen und einem effizienten Einsatz von Pflegefachkräften. Dabei bedarf es auch der bürokratischen Abrüstung im Bereich der Pflegedienste und der Unterstützungsleistungen.