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Depressionen bei Kindern: Interview mit Kinder- und Jugendpsychologin

Die junge besorgte Mutter tröstete ihr depressives kleines Mädchen im Wohnzimmer.

Bis vor einigen Jahren glaubte man, dass Kinder gar nicht an Depressionen erkranken. Heute weiß die Wissenschaft, dass das nicht stimmt. Aber wie viele Kinder und Jugendliche sind betroffen und warum? Und haben die Erkrankungen wegen der Pandemie zugenommen? Im Interview mit Kinder- und Jugendpsychologin Frau Prof. Christina Schwenck an der Uni Gießen erfährst du alles, was du über Depressionen bei Kindern wissen solltest.

Frau Prof. Christina Schwenck, wie oft erkranken Kinder und Jugendliche an Depressionen?

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Prof. Christina Schwenk: „Etwa fünf Prozent aller Kinder und Jugendlichen sind von einer Depression betroffen, Jugendliche allerdings deutlich häufiger als jüngere Kinder. Bei Kindern im Vorschul- und Grundschulalter gehen wir von etwa ein bis vier Prozent aus, bei Jugendlichen zwischen zwölf und 17 Jahren liegt die Schätzung bei drei bis zehn Prozent.“

Wie zeigt sich die Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen?

Prof. Christina Schwenck: „Grundsätzlich und über alle Altersstufen hinweg sind eine traurige Verstimmung sowie Interessen- und Freudlosigkeit bei Aktivitäten, die sonst Spaß machen, sowie Veränderungen im Antrieb zentrale Symptome einer Depression. Dazu kommen dann noch weitere Symptome wie Veränderungen im Schlaf oder Appetit, Wertlosigkeits- und Schuldgefühle, suizidale Gedanken oder Konzentrationsschwierigkeiten. Allerdings unterscheiden sich einige Symptome in den verschiedenen Altersgruppen: Bei sehr jungen Kindern sehen wir zum Beispiel häufig eine Spielunlust und auch körperliche Symptome wie Bauchschmerzen, im Grundschulalter häufiger eine vermehrte Reizbarkeit und Stimmungsschwankungen. Im Jugendalter ähnelt die Symptomatik weitgehend derjenigen im Erwachsenenalter.“


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Warum erkranken Kinder und Jugendliche?

Prof. Christina Schwenck: „Psychische Erkrankungen werden immer durch mehrere Faktoren verursacht. Es gibt nicht den einen Grund, warum jemand erkrankt. Die Vererbung spielt eine Rolle, das bedeutet: wenn Familienangehörige an einer Depression leiden, ist das Risiko für Kinder erhöht. Wenn dann noch ungünstige Umweltfaktoren dazu kommen, kann die Erkrankung entstehen. Wir nennen diese Umweltfaktoren Stressoren. Wobei der Stressbegriff sehr individuell ist. Es geht nicht im engeren Sinne nur um einen vollen Terminkalender, sondern jedes Kind kann etwas anderes als Stress wahrnehmen, beispielsweise Streit mit der Familie, Trennung der Eltern, Ausgrenzung in der Schule oder auch Leistungsdruck. Das, was für ein Kind ein Stressor ist, ist für ein anderes möglicherweise kein Problem und umgekehrt.“

Lösen schwierige familiäre oder gesellschaftliche Lebensbedingungen wie die Corona-Pandemie Depressionen aus?

Prof. Christina Schwenck: „Solche Lebensbedingungen können genau solche Stressoren für gefährdete Kinder sein. Dazu kommt, dass viele positive Aktivitäten und Erfahrungen für viele Kinder weggefallen sind, wie beispielsweise Sport, Spielen mit anderen Kindern, Familienfeiern, aber auch andere schöne Freizeitaktivitäten wie Ausflüge. Wir nennen das einen Verlust von so genannten Verstärkern, also Erfahrungen, die uns guttun. Und wir wissen, dass ein solcher Verstärkerverlust mit Depressionen assoziiert ist. Dazu kamen bei einigen Kindern noch negative Erfahrungen, wie beispielsweise vermehrter Streit in der Familie oder Überforderung durch das Homeschooling.“

Gab es einen Anstieg der Depressionserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen infolge der Pandemie?

Prof. Christina Schwenck: „Die Anzahl an Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten ist rapide angestiegen unter den Pandemiebedingungen und hat sich im Vergleich zu davor etwa verdoppelt. Besonders stark war dieser Effekt bei sozial benachteiligten Kindern. In einer repräsentativen Studie in Deutschland wurde vor allem ein Anstieg von Angsterkrankungen gefunden. In anderen Studien, sowohl aus Deutschland als auch international, zeigte sich, dass Kinder und Jugendliche auch häufiger wegen Depressionen behandelt werden mussten. Die allermeisten Patienten und Patientinnen, die ich aktuell in unserer Sprechstunde der verhaltenstherapeutischen Ambulanz für Kinder und Jugendliche der Uni Gießen sehe, berichten von einer Verschlechterung ihrer Symptomatik und einer erhöhten Belastung seit der Pandemie.“

J2: VORSORGEUNTERSUCHUNG

Bei der J2 (zwischen 16 und 17 Jahren) handelt es sich um eine einmalige Vorsorgeuntersuchung. Es geht um Früherkennung körperlicher Probleme sowie Sexualitätsstörungen. Die J2 ist eine freiwillige Mehrleistung der DAK-Gesundheit. MEHR INFOS

PS: Ab 20 Jahren kannst du einmal im Jahr zur Vorsorgeuntersuchung, auch wegen Früherkennung möglicher Krebserkrankungen.

Sind die Eltern "schuld", wenn die Kinder erkranken?

Prof. Christina Schwenck: „Nein, der Schuldbegriff ist falsch und absolut nicht zielführend. Natürlich gibt es Extremfälle, wo beispielsweise Kinder von ihren Eltern körperlich oder emotional misshandelt oder missbraucht werden. Dass das nicht sein darf und sich negativ auf die psychische Gesundheit der Kinder auswirken kann, ist klar. Die meisten Eltern tun aber ihr Bestes und versuchen, ihren Kindern zu helfen, sind aber selbst mit der Situation und der Belastung unter den Pandemiebedingungen überfordert. Viele quälen sich mit Schuldgefühlen und fragen sich, was sie ,falsch‘ gemacht haben, was eher hinderlich als hilfreich ist. Psychische Erkrankungen sind leider immer noch extrem stigmatisiert und schambesetzt, was viele Betroffene davon abhält, sich rechtzeitig Hilfe zu suchen. Dazu kommt, dass es viel zu wenige Therapieplätze für Kinder und Jugendliche gibt, so dass es schwierig ist, schnell professionelle Hilfe zu bekommen.“

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Wie kann man betroffenen Kinder und ihren Familien am besten helfen? 

Prof. Christina Schwenck: „Wenn Eltern oder Jugendliche selbst den Eindruck haben, dass ihr Kind beziehungsweise sie selbst unter einer Depression leiden, sollten sie sich auf jeden Fall Hilfe bei einer Expertin oder einem Experten suchen wie einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten der einer Kinder- und Jugendpsychiaterin. Auch Schulpsychologinnen und Schulpsychologen oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Beratungsstellen können erste Ansprechpersonen sein. In der Regel wird zu Beginn eine ausführliche Diagnostik gemacht, um zu sehen, ob eine Depression vorliegt oder auch eine andere Erkrankung. Dann wird im Gespräch mit der Familie, wobei das Kind immer mit einbezogen werden sollte, geklärt, welche Art der Hilfe die richtige ist. In der Regel ist das eine psychotherapeutische Behandlung, bei schwereren Fällen können auch eine medikamentöse Begleitbehandlung oder ein stationärer Aufenthalt erforderlich sein. Das sollte aber nicht davor abschrecken, sich Hilfe zu suchen: Ohne Behandlung kann eine Depression chronifizieren, was eine erfolgreiche Behandlung erschwert. Auch müssen wir bedenken, dass Suizid die zweithäufigste Todesursache im Jugendalter ist, und Kinder und Jugendliche mit Depressionen haben ein erhöhtes Suizidrisiko. Es sollten alle erforderlichen Behandlungsmaßnahmen ergriffen werden, um dem Kind dabei zu helfen, wieder Freude empfinden zu können und dieses Risiko zu minimieren.“

Autor(in)

Journalistin für Medizin und Gesundheitsthemen

Qualitätssicherung

DAK Fachbereich

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